Meine Nebensächlichkeit Nr. 31 ist ein Wasserschaden. Diesmal in der S-Bahn. Ja, ich habe tatsächlich eine Vorliebe für Reihungen und finde den Gedanken spannend zu ein und derselben Sache, mehrere Dinge zu schreiben. Aber wenn es dann um die praktische Umsetzung geht, fällt mir natürlich nichts ein. Außer, ich versuche mir neue Geschichten auszudenken, die gar nichts mit den bisherigen zu tun haben. Dann kommt natürlich einfach die nächste Öffentlichernahverkehrgeschichte daher. Uuuuuppsi.
Heute geht es also um das vergebliche Warten auf Handwerker und um nicht erwiderte Liebe und eine (vielleicht chronische) Erkrankung wird auch noch erwähnt. Aber wie immer verspreche ich, dass ich mich bemühe ein gutes Gefühl zu vermitteln und nicht eure Ängste noch weiter zu schüren.
Und noch eine Sache in eigener Sache: Ich habe hier ganz nebenbei ein bisschen meine Schreibpraxis verändert. Habt ihr vielleicht bemerkt, aber es sollte nochmal gesagt sein: Ich schreibe hier fiktionale Texte. (Eigentlich schon immer, aber bisher schien das zumeist übersehen zu werden.) Jetzt aber los: Wasserschaden in der S-Bahn.
Ein mildes aber kaltes Nachmittagslicht tauchte die Stadt in einen milchiggoldenen Glanz, vor einzelnen Häusern waren noch die Reste von Weihnachtsdekorationen zu sehen, dabei hatte das neue Jahr schon längst begonnen. Mirianne saß in der S-Bahn. Richtung Hinaus aus der Stadt. Die Häuser zogen an ihr vorbei. Zuerst städtische schöne historische Häuser, dann städtische nichtsoschöne historische Häuser, dann vorstädtische funktionale Häuser (hier die meisten Dekorationsreste). Mit der S-Bahn aus der Stadt hinaus zu fahren, war wie eine Zeitrafferaufnahme der Stadtentwicklung zu sehen, wie die Stadt sich weiter und weiter ins Umland hinausfraß. Die ersten vor-vorstädtischen Häuser, daneben dann schon die ersten dörflichen Häuser, dann die ersten Kuhweiden. Bis zu einer Endstation zu fahren, war für Mirianne immer wie ein kurzer Ausflug aus ihrem Leben hinaus. Dabei fuhr sie dort zum Arbeiten hin. Einer der vielen kleinen Kleinstjobs, den sie ausübte, um während ihres Studiums nicht nur essen, trinken und wohnen zu können, sondern sich ab und an auch etwas gönnen. Doch in der Annahme, das auch dieser wie die anderen Kleinstjobs nicht das wäre, was sie für den Rest ihres Lebens tun würde, fühlte es sich für sie ein bisschen befreiend an. Die Fahrt hinaus eine Pause von ihrem Leben und die Möglichkeit über Alles nachzudenken. Alles, was im letzten Jahr passiert war und Alles, was das neue Jahr bringen würde. Und über Alles, das sie sich kaufen konnte, mit dem bisschen Geld, was dieser Job ihr einbringen würde. Ein Rasiermesserset, mit richtigem Messer und richtigem Pinsel schwebte ihr vor. Das war elegant und luxuriös aber praktisch. Eine Frivolität, die man sich selbst als Student nicht leistete. Deshalb dachte sie, das wäre doch das ideale Geschenk für ihn. Er beschäftigte Miriannes Gedanken auf den allermeisten ihrer Hinausausderstadtfahrten und er hatte Geburtstag Ende Januar. Mirianne freute sich darauf, ihm etwas zu schenken. Es wäre das erste Geburtstagsgeschenk, das sie ihm machte. Letztes Jahr hatte sie noch nicht gewusst, wann er Geburtstag hatte, sie hatte aber mitbekommen, wie er selbigen gefeiert hatte. Nämlich gar nicht. Beim Gedanken daran verkrampfte sich ihr Herz. Es war so unfair, dass so ein liebenswerter Mann keine Geburtstagsgeschenke bekommen hatte. Ja nicht einmal beglückwünscht und gefeiert worden war. Er hatte es ihr erst ein paar Monate später erzählt, bei einem ihrer seltenen Treffen in der Mensa bei einer Tasse Kaffee, die sie aus ihrer Thermoskanne ausschenkte. Sie sah ihn noch vor sich, die großen Hände um die Tasse gefaltet, ganz dünn und müde. Auch während der Seminare, die sie gemeinsam belegten, gefiel er ihr gar nicht. Also er gefiel ihr schon, aber sein Gesundheitszustand gefiel ihr nicht. Nicht, dass er richtig krank gewesen wäre, nur müde und überarbeitet. Über Gespräche auf dem Gang oder über nebenbei geäußerte Bemerkungen bei Gruppenarbeiten erfuhr sie immer mehr über sein Leben. Wie es seiner Freundin schlechter und schlechter ging, wie er nächtelang an ihrem Bett saß, wie er sich sorgte und grämte. Als sie sich im alten Jahr das letzte Mal gesehen und frohe Feiertage gewünscht hatten, war er optimistisch gewesen. Wie viele Studentenpaare hatten er und seine Freundin die Feiertage getrennt verbracht und als Mirianne ihm eine Nachricht zu Silvester geschrieben hatte, hatte seine Antwort ein Tag später so geklungen als sei er mit Freunden weg gewesen, irgendwo in der Einsamkeit der Natur. Sie hoffte es. Er sollte mehr Zeit für sich haben, nicht von der Pflege für eine andere Person völlig eingenommen sein. Sie zweifelte nicht an seiner Liebe, dafür hatte er einfach einen viel zu guten Charakter, aber das musste einen Menschen doch kaputt machen, sich immer nur kümmern und dann nichts zurück bekommen. Wenigstens ein richtig schönes Geburtstagsgeschenk! Sie nahm ihr Handy aus der Tasche, um nochmal durch ihre Wunschlisten zu scrollen, die sie angelegt hatte, seit sie diese fixe Idee verfolgte, ihm etwas zu schenken. Sie hatte einiges hin und her überlegt, aber das Rasiermesserset sprach sie am meisten an. Sie las gerade die Produktbeschreibung als der Bildschirm auf einen Anruf schaltete. Eine unterdrückte Rufnummer, wer mochte das sein? Ihr Finger schwebte schon über Anrufannehmen, da ruckelte die S-Bahn und sie drückte den Anruf weg. Was sollte sie machen? Sie las weiter die Produktbeschreibung, als die Meldung aufblinkte, dass ihr jemand auf die Mailbox gesprochen hatte. Bestimmt der unbekannte Anrufer! Sie rief die Nachricht ab und lauschte. Eine ältere Frau mit besorgtem Tonfall:
„Hallo? Sie hatten gesagt, ich solle nochmal anrufen, wenn es Probleme geben sollte. Schmidt hier. Aus der Schillerstraße. Es steht Wasser in meinem Bad. Schon bestimmt 10 Zentimeter hoch. Könnten Sie nochmal jemanden schicken?! Vielen Dank.“
Miriannes Herzschlag hatte sich beschleunigt, ihre Hände schwitzten. Ein Wasserschaden. Wie schrecklich… Sie brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, dass der Job zu dem sie gerade fuhr, Nachhilfestunden in Latein war. Und dass sie kein Klempnerdienst war (nannte man das überhaupt heute noch so?). Und dass diese Frau nur zufällig auf ihrer Mailbox gelandet war.
Es wäre also ganz einfach, sie würde die Frau zurück rufen und das Missverständnis klarstellen, damit diese dann die richtige Nummer wählen konnte.
Ganz einfach. Ihre kleine gute Tat des Tages.
Nur: Mirianne hatte die Nummer der Frau nicht. Die Rufnummer war ja unterdrückt gewesen und erschien nicht in ihrer Anrufliste.
Aber sie könnte die Adresse und Rufnummer des Klempners, nein Sanitär…dings, herausfinden. Einfach den Namen in der Suchmaschine eingeben, es würde bestimmt nicht mehr als ein, zwei Stück mit diesem speziellen Namen geben.
Nur: Die Frau hatte den Namen nicht gesagt.
Aber es war eine ältere Dame gewesen, ältere Damen stehen im Telefonbuch. Sie hatte gesagt, sie wohne in der Schillerstraße! Das hatte sie gesagt! Und ihren Namen! Schmidt! Frau Schmidt aus der Schillerstraße, das müsste es doch eingrenzen. Einfach im Telefonbuch nachschlagen.
Nur: Die Frau hatte auf Miriannes Handy angerufen, nicht auf dem Festnetz und selbst dann. Mirianne wusste nicht, in welcher Stadt dieses Wasser in diesem Bad stand.
Mirianne war an der Endhaltestelle angekommen, stand auf, nahm ihre Tasche und löschte traurig die Mailboxnachricht.
Da stand irgendwo eine Frau 10 Zentimeter tief im Wasser in ihrem Badezimmer und wartete darauf, dass der Mensch, dem sie auf die Mailbox gesprochen hatte, käme und er würde nicht kommen. Und Mirianne konnte nichts tun. Nichts.
Vielleicht könnte die Mailbox mit ihrer Rückruffunktion zurückrufen… ach nein. Sie hatte die Nachricht ja schon gelöscht.
Mirianne stieg aus und versuchte die ganzen zwei Nachhilfestunden lang nicht mehr daran zu denken.
Als sie dann beinahe dreieinhalb Stunden später wieder aus der S-Bahn, die sie wieder Hinein in die Stadt gebracht hatte, ausstieg, waren ihre Gedanken wieder in angenehmeren Bahnen. Jetzt würde sie sich belohnen und das Geburtstagsgeschenk kaufen. In einem Laden in der Stadt, nicht im Internet. Das war doch viel schöner, so in echt Dinge ansehen zu können. Sie schloß ihre Hand um die knisternden Geldscheine in ihrer Manteltasche und steuerte zielstrebig die Fußgänger- und Einkaufszone an, als ihr Herz wieder seinen Schlag beschleunigte, diesmal aber freudig. Da stand er, mitten auf der Straße und lächelte, wie sie ihn noch nie hatte lächeln sehen. Entspannt und freudig. Er sah nicht zu ihr herüber, aber sie beschloss seinen Blick aufzufangen und ihm nochmal persönlich ein Gutes Neues zu wünschen. Noch konnte er sie nicht sehen, aber wenn sie an den Zierpflanzungen, bzw. an dem was davon noch winterlich übrig war, vorbeigegangen wäre, müsste sie in sein Blickfeld kommen. Sie umrundete die großen Pflanztöpfe, die noch gegen die Kälte abgedeckt waren, aber er war verschwunden. Die Stelle, wo sie seinen hübschen Kopf gerade noch gesehen hatte, war leer. Links und rechts auch niemand zu sehen. Erst als sie den Blick senkte, entdeckte sie ihn wieder, aber er sah immer noch nicht zu ihr, sondern hatte sein Lächeln auf eine Frau im Rollstuhl gerichtet, die ihn ebenso breit anstrahlte. Die beiden küssten sich, als wären sie die einzig wichtigen Menschen auf der Welt. Mirianne machte auf dem Absatz kehrt und ging zum nächstgelegenen Feinkostgeschäft. Schokolade kaufen.
Sie würde nie herausfinden, ob die Frau ihr Bad dann noch in Ordnung gebracht bekommen hatte, aber sie stellte sich vor, dass es nach einer gründlichen Sanierung jetzt richtig ist.